Westward ho!
So sollen die wagonner am Morgen gerufen haben, wenn sie das Nachtlager aufhoben und in neue unbekannte Gegenden aufbrachen. Zehn Meilen am Tag waren für eine solche Planwagenkarawane eine gute Strecke. Oft dachte ich bei unserer Reise durch den Südwesten an diese Kolonisten, wenn wir mit dem Auto auf einer Brücke eine kleine Senke oder einen trockenen Wasserlauf überquerten, die damals möglicherweise zu einem halben Tag Verzögerung geführt hatten. Dass man in fünf Stunden von Detroit nach San Francisco fliegen könnte, dürfte sich zu jener Zeit niemand auch nur im Entferntesten vorgestellt haben.
Unser Aufbruch war von anderen Schwierigkeiten begleitet. Es gelang uns nicht, online einzuchecken, und nachdem wir mit der Hilfe unseres Sohnes die Computer im Callcenter von Art und Wichtigkeit unseres Anliegens überzeugt hatten und lange genug in der Warteschleife gesteckt waren, konnte uns eine menschliche Stimme wenigstens die Ursache des Problems erklären: Wir waren auf zwei Flüge zu ähnlichen Zeiten gebucht. United Airlines hatte, was angeblich sehr häufig geschieht, im September den am späten Vormittag vorgesehenen Flug gestrichen und uns auf eine Verbindung von Detroit über Philadelphia nach San Francisco mit mehr als acht Stunden Flugzeit umgebucht. Da wir das nicht wollten, verwies man uns auf den Morgenflug kurz nach Sieben, vergaß aber offensichtlich, die andere Reservierung zu streichen. Das konnte die freundliche Dame am Telefon nicht nachholen! Außerdem gehöre das Ticket der Lufthansa, die ihrerseits aus einem Callcenter auf den Philippinen (!) jede Verantwortung zurückwies. Nachdem auch der Hinweis wenig hilfreich war, in der Nacht von Samstag auf Sonntag mit dem Reisebüro in Kontakt zu treten, blieb nur die Alternative, so früh wie möglich am Flughafen zu sein und dort die weitere Entwicklung abzuwarten.
Startversuch also morgens um Vier! Nachts waren die Temperaturen nach einem Regentag unter den Gefrierpunkt gesunken, die Schiebetüren des Autos ließen sich nicht öffnen. S. als die gelenkigere von uns beiden musste durch den Kofferraum auf die Rückbank steigen! Die Straßen waren dann größtenteils gut gestreut, die Schlange am Schalter kurz, die Dame dort offensichtlich kompetent. Nach ca. 20 Minuten hatten wir unsere Bordkarten in der Hand, das Gepäck war aufgegeben, die Sicherheitskontrolle rasch durchlaufen. Also konnten wir gemütlich frühstücken. Meine Frau konnte vor mir unproblematisch boarden, während ich angehalten wurde. Wieder ein paar Telefonate und dann die Frage nach unseren Einreisepapieren (ETA) nach Neuseeland und Australien!? Die waren in S. Handgepäck und damit bereits im Flugzeug. Ein Mitarbeiter wurde losgeschickt und bestätigte deren Vorhandensein und Korrektheit. So durfte ich nach gut 20 Minuten als letzter Passagier auch einsteigen. Die Maschine musste aber erst enteist werden, und so befinden wir uns nun mit etwas Verspätung seit zwei Stunden über den Wolken: Westward ho!
Als ich nach einem kleinen Nickerchen wieder aufwache, sind wir sicher schon jenseits des Missisippi. Die Wolken sind verschwunden, unter uns längliche oben abgerundete schneebedeckte Hügel. Dazwischen mäandert ein Fluss, neben dem eine schmale Straße verläuft. Einzelne zugefrorene Seen, aber keine Zeichen einer Siedlung. Wir hatten noch nicht kapiert, dass man eigene Elektronik anschließen kann und muss, um das Unterhaltungsprogramm inklusive Flugroutenkarte abrufen zu können, so bleibe ich auf Vermutungen angewiesen. Es könnten die „Badlands“ sein, westliches Nebraska oder Kansas. Bald wird die Schneedecke dünner, was der Landschaft eine ungewöhnliche Plastizität verleiht. Ketten felsiger Rücken ragen aus dem Untergrund und lassen an die Wirbelsäulen riesiger prähistorischer Echsen denken, an flachen Stellen bilden runde und wie eine Schichttorte gebänderte rechteckige Felder geometrische Muster. Es folgen wohl höhere Berge, bewaldet und beschneit. Die Rocky Mountains sind hier in Colorado bis zu 4000m hoch, die Waldgrenze liegt weit über 3000m. Beim Schifahren in Keystone und Vail vor nunmehr 10 Jahren haben wir dieses Gebirge mit einem aufgeblasenen Schwarzwald verglichen.
Immer wieder geben Wolkenlöcher den Blick frei auf ausgetrocknete Flussbetten und mehr oder weniger schneebedeckte felsige Bergketten. Offensichtlich überfliegen wir auch den nördlichen Teil des Yosemite - Parks (sprich josemiti), mit dem ich eindrucksvolle Erinnerungen an lange einsame Wanderungen im Mai 2004 verbinde. Während der letzten 20 Minuten dann auch wieder grüne Hänge und Täler, Stauseen, immer dichtere Besiedlung. Wir fliegen von Südosten her zur Landung an, die Maschine setzt erst ziemlich weit von der Uferlinie entfernt auf. Manchmal sind die Landungen in San Francisco nämlich ein gewisser Nerven-kitzel, da der Anflug auf die in die Bay verlängerte Landebahn oft nur 10 – 20m über der Wasseroberfläche erfolgt.
Das Shuttle bringt uns zum Hotel in Burlingame, gegen einen Obulus von 50$ können wir einige Stunden früher unser Zimmer beziehen, uns frisch machen und mit der BART (Bay Area Rapid Transportation) in die Stadt fahren. Was uns vor rund 15 bzw. 25 Jahren hochmodern erschien, ist heute fast schon historisch angehaucht und relativ teuer. Die Züge rattern und quietschen wie auf der Neckartalstrecke oder der Frankenbahn und haben nicht einmal eine elektronische Anzeige der Haltestellen, sodass man sich auf die bei diesem Lärm nur schwer verständlichen Ansagen verlassen muss. Das andere historische Verkehrsmittel, die cable cars, ist zu S. großem Bedauern außer Betrieb.
So schlendern wir über den Union Square, durch Chinatown und hinauf zum Telegraph Hill mit dem Coit-Tower. Wir frischen Erinnerungen auf, bemerken Veränderungen. Obwohl Sonntag, scheint es, dass die Stadt geschäftiger geworden ist, etwas an Flair verloren hat. Aber San Francisco bleibt mit seinen verschiedenen Quartieren und der unvergleichlichen Lage eine Stadt, ist nicht wie z.B. Houston ein Ort, wo Riesenkinder ihre Legosteine verstreut haben. Mich fasziniert immer wieder, wie man auf die Idee kommen konnte, all diese Hügel mit einen Schachbrettmuster zu überziehen, nur wie in der Lombard Street ein paar Kurven zuzulassen. Die Krimiverfilmer sind dankbar, denn Verfolgsjagden meerwärts lassen sich so spektakulär inszenieren. Wenn man selbst in irgendeinem Verkehrsmittel bergab unterwegs ist und nach vorne schauen kann, hat man bei jeder Querstraße tatsächlich den optischen Eindruck eines Schanzentisches.
Von der Plattform vor dem Coit- Tower, wo ein von italienisches Einwanderern gestiftetes etwas heroisches Kolumbusdenkmal steht, sehen wir auf die Golden Gate-Bridge, Treasure Island, Alcatraz und Fishermen‘s Wharf sowie ein unvermeidliches Kreuzfahrtschiff, das als schwimmendes Hochhaus irgendwie deplaziert wirkt. Die Gefängnisinsel haben wir im Dezember 2003 besucht und haben beide noch die hallenden Schritte und das Schlüsselklirren aus dem Audioguide im Ohr. Es ist kaum glaublich, dass trotz der Nähe zur Küste kein oder höchstens ein Fluchtversuch gelungen ist. Übrigens hatten Native Americans Alcatraz nach der Auflösung des Staatsgefängnisses längere Zeit besetzt.
Mit dem Wetter konnten wir ganz zufrieden sein, insbesondere nach dem Kaltstart in Ann Arbor und bei den Berichten aus Deutschland. Die Mark Twainzugeschriebene Sottise traf jedenfalls bisher bei keinem unserer Besuche hier zu: „The coldest winter I ever saw was summer in San Francisco".
Im Hafenbecken von Pier 39 belegten die Seelöwen heute nur wenige Plattformen, die Zuschauer waren zahlreicher. Warum die Zahl der Tiere vom Maximum von 1709 an einem Tag (wer hat die wohl gezählt?) bis zum zwischenzeitlichen völligen Verschwinden schwankt, ist ziemlich unklar. Inzwischen hat man den Robben sogar ein Denkmal gesetzt. Schließlich haben wir in einem Seafood – Restaurant noch recht gut zu Abend gegessen, um dann bei der Rúckfahrt ins falsche Hotelshuttle einzusteigen und doch noch ein Taxi zu benötigen.
Morgens dachten wir zunächst, es habe in der Nacht gefroren, bis wir bemerkten, dass die Veränderungen an dem „See“ vor dem Hotel auf die Gezeiten zurückzuführen waren, denn er ist ein Meeresarm. Noch ein kurzer Spaziergang am Ufer, und dann mussten wir wieder los zum Flughafen, da unser Konflikt mit dem Buchungssystem von United Airlines weiter andauert.
Während ich die Koffer bewachte, klärte S. die Lage mit einer freundlichen Mitarbeiterin, und diesmal konnte auch ich ganz normal boarden. Dies war der letzte UA-Flug auf unserer Reise, und wir hoffen, dass es mit den anderen Etappen so unproblematisch geht wie bei der Reise von Frankfurt nach Detroit.