ANN ARBOR UND DIE UNIVERSITY OF MICHIGAN (UM)
Diesen Städtenamen hörte ich erstmals 1973, als ich meine Doktorarbeit über den Morbus Hodgkin begann. Zwei Jahre zuvor hatte hier ein Symposium stattgefunden, bei dem eine internationale Expertengruppe eine neue Klassifikation der Krankheit erarbeitete und auch ansonsten einige Standards festlegte, die für viele Entwicklungen in der Krebsmedizin wegweisend waren. Mehrere Generationen von Ärzten paukten diese leicht abfragbare und damit examensrelevante Einteilung und behielten damit zumindest den Namen des Ortes in Erinnerung (oder glaubten, dass Ann Arbor der Name einer Wissenschaftlerin sei).
Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit lokalisierte ich damals Ann Arbor nicht genau, sondern gab mich mit „irgendwo im Mittelwesten“ zufrieden. Erst als unser Sohn seiner damaligen Freundin und jetzigen Frau aus Forschungs- und Arbeitsgründen dorthin folgte, beschäftigte ich mich näher mit der Stadt und der dortigen University of Michigan (UM). Inzwischen haben wir zusammengenommen fast ein halbes Jahr hier verbracht, sind deshalb aber noch lange keine Ann Arborites. Übrigens kennt von unseren hiesigen Bekannten, die allerdings nur zu einem geringen Teil mit der Medizin zu tun haben, kaum jemand die oben erwähnte Klassifikation.
Natürlich ist AA (oder A2) amerikanisch, aber nicht so wie eine sonstige Stadt im Mittelwesten. Der Grundriss ist weitgehend quadratisch angelegt, krumme Straßen finden sich vor allem in den Randbezirken. Als die Stadt von zwei Farmern 1824 gegründet und nach ihren Frauen sowie den großen Beständen einer Stacheleiche (bur oak) benannt wurde, erhielt sie wie alle Neugründungen eine Fläche von 5x5 Meilen (auch die Grenzen der Counties wurden fast ausnahmslos mit dem Lineal gezogen). Das Lebensgefühl ist aber von der Universität bestimmt und deshalb nicht typisch Mittelwesten, und man sagt, AA seien „25 square miles surrounded by reality“.
Die Lage in einer Moränenlandschaft ist ansehnlich, aber nicht spektakulär. Der über 200km lange Huron River durchfließt den Norden und begrenzt den Osten der Stadt. Er hat waldbestandene Hochufer, am Argo Pond sogar eine kleine Stromschnelle, die man allerdings auf Schwimmreifen befahren kann, viele Staustufen für kleine Kraftwerke, dort seerosenbedeckte Erweiterungen. Die ganze Strecke entlang führt ein Radweg durch die Auwälder. Das 1906 begründete Nichols Arboretum am Südufer ist eine Mischung aus botanischem Garten, Landschaftsschutzgebiet und Freizeitgelände für Einwohner und Studenten. Kleine und größere Parks mit Spielplätzen und Sportmöglichkeiten gibt es allerorten; man spielt dort Basketball, Väter üben mit ihren Söhnen das Werfen des Baseballs, auch Soccer ist - vor allem bei Mädchen – recht populär. Das Betreten des Rasens ist nirgends verboten.
Deutsche Einwanderer spielten lange eine große Rolle. Sie siedelten vor allem westlich der Main Street und verdienten ihr Geld als Handwerker, Farmer und Geschäftsleute. Um 1900 machten sie ein Drittel der Bevölkerung aus. Es gibt noch immer einen „Schwabenverein“, ursprünglich eine Art landsmannschaftliche Unterstützungsorganisation. Heute werde bei dessen Versammlungen nur noch zur Begrüßung und zum Abschied Deutsch gesprochen, aber die Kirchweih und das Bockbierfest bereichern den Veranstaltungskalender der Stadt mit „typisch deutschen“ Terminen. Die UM hat eine Partnerschaft mit der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen.
Besondere architektonische Attraktionen bietet die Stadt nicht, einzelne ältere und neuere Bauwerke im Campusbereich sind aber durchaus interessant. Das höchste Gebäude hat 26 Stockwerke, die meisten Häuser in den Geschäftsstraßen der downtown sind 2-4-stöckig und stammen vielfach aus der Zeit der um 1900, neuere Universitätsinstitute und die Kliniken sind etwas höher. Außerhalb der Innenstadt ist die Bebauung meist 1-2-geschossig, mit einem Vorgarten zwischen Gehweg (sidewalk) und Haus und einem größeren Garten dahinter. Die Vorgärten sind sehr selten durch Hecken oder Zäune zur Straße hin abgegrenzt.
Auf dem Rasen stehen häufig lawn signs von Handwerkern oder Immobilienbüros, öfter noch solche mit allgemeinen Bekenntnissen zu Toleranz und guter Nachbarschaft sowie in Wahl-kampfzeiten mit den Namen der präferierten Kandidaten. Trump und die Republikaner kommen dabei praktisch nie vor, die ersten beiden für demokratische Bewerber (M. Bloomberg und E. Warren) haben wir jetzt schon gesehen. Die Häuser sind meist einfach gebaut: betoniertes Fundament, Holzständerrahmen und Fertigbauteile, außen geschindelt oder mit Verblendmauerwerk versehen. Viele haben einen porch, aber wir haben fast niemals jemanden dort sitzen sehen, auch wenn da ein rocking chair steht. Eine Ausnahme gibt es: die Aufsicht beim Vermieten von Hof und Vorgarten als Parkplatz bei F ootballspielen.Beliebt sind auch antikisierende Fassaden. In den Gärten und auf der curbside zwischen Fahrbahn und Gehweg stehen große Bäume: Silberahorn, Eichen, Eschen, Platanen. Schön anzusehen und dem Stadtklima dienlich, aber abbrechende Ästen werden nicht selten ein Problem für die fast ausschließlich überirdischen Stromleitungen und führen zu besonders im Winter zu manchmal tagelangen Stromausfällen. Die Elektroinstallationen hier in den Staaten sind häufig so, dass die verantwortlichen Handwerker mit dem Bestehen der Gesellenprüfung in Deutschland wohl einige Schwierigkeiten hätten.- Auch wird Regenwasser meist ungeklärt in die Flüsse geleitet, und die Dachrinnen sind nicht an die Kanalisation angeschlossen. Sie werden mit oft meterlangen Rüsseln weg von den Fundamenten irgendwo in den Garten verlängert, wo das Wasser dann versickern soll. Bei Lehmböden ist das nicht ganz einfach. Die Stadt propagiert das Anlegen von rain gardens, das sind Mulden im Rasen, möglichst mit einheimischen Pflanzen bewachsen. Macht man das richtig, gibt es auch ein paar Dollar Ermäßigung bei der sehr hohen Grundsteuer.
Daneben gibt es Apartmenthäuser und „townhouses“, die unseren Reihenhäusern ähneln. Die Mieten sind insbesondere im Bereich der Innenstadt recht hoch, und auch die Haus- und Grundstückspreise entsprechen mindestens denen, die wir in der Umgebung von Heilbronn kennen, nehmen zur Peripherie hin allerdings deutlich ab. Eine Immobilie ohne wesentliche Macken ist selten länger als eine Woche auf dem Markt.
Wenn man etwas auf die curbside stellt, ist es herrenloses Gut und kann von jedem mitgenommen werden. Bei Umzügen heißt es da aufpassen! Stehen die Sachen aber zu lange da, kommt ein freundlicher Inspektor von der Stadt und fordert auf, den Sperrmüll regulär zu entsorgen.
Übrigens hat AA nicht nur eine große Zahl von Parks und Bäumen, sondern auch ein innerstädtisches wildlife. Die grauen Eichhörnchen mit den gelblichen Bäuchen(squirrel) sind allgegenwärtig und wie so vieles in Amerika natürlich größer als in Europa. Sie benützen die Telefonleitungen als Hochautobahnen und werden zum Campus hin immer fetter. Derzeit sieht man in den Bäumen ihre vielen Kobel. In der Kanalisation wohnen Waschbären (racoons), hier und da streift ein Stinktier (skunk) herum, im Buschwerk tummeln sich Streifenhörnchen (skipmunks) und Kaninchen. Ein Murmeltier (groundhog – gehören zoologisch zu den Eichhörnchen!) verhinderte die Anlage eines Gemüsebeetes, weil es auch 50cm tief versenkte Zäune mühelos untertunnelte. In den parkähnlichen Friedhöfen haben wir kleine Rudel von Weißwedelhirschen (white-tailed deer) angetroffen.
AA liegt auf der geographischen Breite der südlichen Toskana, das Klima unterscheidet sich aber deutlich: Zwar wird es im Sommer bis 40° warm, dabei ist es oft schwül und gewittrig, da die Großen Seen die Luftfeuchtigkeit und die Niederschlagsmenge deutlich beeinflussen. Im Winter sinkt das Thermometer durchaus unter -30°C (centigrade)*1, was wir selbst allerdings noch nicht erlebt haben. Dazu kommt oft ein kalter Nordwestwind, denn der gesamte Mittelwesten ist gegenüber polaren Luftströmungen durch keinerlei Gebirge geschützt. Auf größere Schneefälle ist man offensichtlich ganz gut vorbereitet; dies gilt sicher nicht für alle Teile der USA, wie wir vor Jahren zwischen Washington und Philadelphia an der Ostküste erfahren mussten.Schulen werden dann aber dennoch recht großzügig geschlossen, was berufstätige Eltern vor erhebliche Probleme stellen kann.
Ungewöhnlich für die USA sind manche Regelungen im Verkehrsbereich. Es gibt Radwege bzw. Radspuren, und auch Erwachsene dürfen laut städtischer Verordnung auf den recht breiten Sidewalks radeln. Das Rad schieben heißt übrigens „to walk the bike“ . Der ÖPNV ist gut ausgebaut, für ein Ticket in den Hybridbussen der Gesellschaft „the ride“ zahlt man $1,50. Daneben verbinden die kostenlosen commuter die verschiedenen Campusbereiche, aber man kann sie auch als Nichtstudent ohne weiteres benutzen.
Das öffentliche Schulwesen ist recht gut, sodass man für die Kinder keine teuren Privatschulen suchen muss. Es ist auch kostenlos, im Gegensatz zu Kindergärten2und natürlich Universitäten. Amerikanische Studenten gehen je nach Fach mit 30 000 – 100 000 und mehr Dollar Schulden ins Berufsleben!
Das große gelbe M auf blauem Grund ist allgegenwärtig: auf T-Shirts ebenso wie auf Gebäuden im Campusbereich, auf Fahnen mit der Aufforderung „Go blue“ vor Privathäusern wie auf den Werbeplakaten der Universität, die zu den ältesten und renommiertesten des Landes zählt. Sie hat über 40 000 Studenten, und sie beschäftigt mit 33 000 Angestellten mehr Menschen als alle anderen Arbeitgeber zusammen. Allerdings gehört ihr auch ein großer Teil der Gebäude und Flächen, und dafür muss sie der Stadt keine Grundsteuern entrichten. Letztere sind jedoch die Haupteinnahmequelle amerikanischer Kommunen!
Die University of Michigan ist staatlich, die Zuschüsse der öffentlichen Hand machen aber weniger als 10% des Etats aus. Die Studiengebühren sind hoch, unterscheiden sich von Fach zu Fach und liegen für Michigander derzeit bei 8 000 -30 000$ pro Jahr, für „Nicht-Landeskinder“ beim bis zu Dreifachen!. Sämtliche Fakultäten sind vertreten, meist mit hohem Niveau in Forschung wie Lehre. Davon zeugen ein gutes Dutzend Nobelpreisträger, die meisten davon in Physik und Medizin.
Die 1817 in Detroit gegründete Universität wurde 1841 in das Provinzstädtchen verlegt. Eine kluge Berufungspolitik und der wirklich universitäre Anspruch der führenden Personen bewirkten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ungeahnten Aufschwung. Der Campus lag damals noch zwischen Äckern und Kuhweiden, die erste Forschungseinrichtung war ein astronomisches Observatorium. Als erste Hochschule in den USA etablierte und integrierte de Universität in jenen Jahren auch die Medizin mit eigenem Klinikum, die Chemie, die Zahnmedizin und die Pharmazie, später (1940) die Luftfahrttechnik und (1940) die Humangenetik. Die MU zählte im Jahr 1900 zu den Gründungsmitgliedern der Association of American Universities und wird auch heute in den beliebten Ranking-Listen auf Spitzenpositionen geführt. Dazu tragen gleichermaßen der gute Ruf geistes- sozial- und naturwissenschaftlicher Fächer bei. Das Stiftungsvermögen beträgt über neun Milliarden Dollar, der jährliche Etat für Forschung mehr als eine Milliarde!
Sicher ist die Universität auch mit verantwortlich für das liberale geistige Klima. Früh waren Bürgerrechtsorganisationen aktiv, und schon 1948, als es die meisten Friseure noch ablehnten, Schwarze zu bedienen, wurde ein farbiger Student in ein wichtiges repräsentatives Amt gewählt. Initiativen gegen den Vietnamkrieg, zum Umweltschutz (ENACT) und zur Legalisierung von Marihuana gingen von hier aus, eine Stadträtin der Human rights Party war 1972 die erste „geoutete“ Homosexuelle, die in den USA in ein öffentliches Amt gewählt wurde. Kennedy (Initiierung des peace corps), Nixon, Lyndon B. Johnson (Vorstellung der „great society“) und Barack Obama hielten hier bedeutende Reden.- Und auch viele bekannte Rock- und Pop-Musiker stammen aus Ann Arbor oder lebten einige Zeit hier: u.a. Alice Cooper, Iggy Pop, Bob Seger, Madonna.
Eine große amerikanische Universität ist ohne Sportteams undenkbar. Das Michigan Stadium fasst offiziell 107 500 Zuschauer, ein Rekord wurde 2013 jedoch mit über 115 000 bei einem Footballspiel der Wolverines gegen Notre Dame aufgestellt. Auch zu einem Fußball-Testspiel zwischen Manchester United und Real Madrid kamen 2014 110 000 Menschen, und ins Guinness -Buch der Rekorde fanden zwei Eishockeymatches mit über 100 000 Fans Aufnahme, womit eine Bestmarke der Schalke-Arena gebrochen wurde.
Wir waren selbst zweimal in dieser Riesenschüssel, einmal unentgeltlich mit der ganzen Familie zu einer Filmvorführung von „Die Schöne und das Biest“ auf den riesigen Videotafeln, und dann wollten wir auch einmal ein Footballmatch miterleben. Das Drumherum mit der Choreographie der Marching Bands (Musikkapellen, die sozusagen im Dauerlauf spielen und dabei noch Muster bilden, am Ende natürlich ein M) und der Cheer-Gruppen war phantastisch, die Stimmung unter den Zuschauern gut und völlig friedlich: schließlich hat die Aggression ja das Spielfeld für sich! Man kommt entsprechend auch als ganze Familie mit Kindern und braucht sich keine Sorgen wegen Pyrotechnik oder Hooligans machen.
An solchen Footballterminen durfte unser Sohn laut Mietvertrag seiner früheren Wohnung nicht im Hof parken, da dieser und die Stellmöglichkeiten auf dem Rasen vor dem Haus als Parkplätze vermietet wurden. Das ist im Umkreis von mindestens einem Kilometer um das Stadium der Fall, und die Preise dafür schwanken je nach Bedeutung des Spiels zwischen 10 und 50$. Ein Problem ist das nicht, denn am Vorabend sind ja die Parkmöglichkeiten am Straßenrand noch frei! Viele dieser Leute, die oft von weither kommen, haben übrigens gar keine Tickets, sondern sie veranstalten zwischen den Autos eine Grillparty und schauen sich das Match im mitgebrachten Fernseher an.
Der Teamname „Wolverines“ für alle Mannschaften der UM bezieht sich auf die Marderart, die im Deutschen Vielfraß heißt.- Sportler der Universität haben außer 1896 bei allen Olympischen Sommerspielen Medaillen gewonnen, insgesamt (mit Winterspielen) 81 goldene, 42 silberne und 49 bronzene. Einen nicht geringen Anteil daran hatte zuletzt Michael Phelps, aber auch Leichtathleten, Ringer, Radfahrer, Eistänzer, Ruderer und viele mehr waren erfolgreich.
Zur Universität gehören auch interessante Museen für Kunst, Archäologie und Naturgeschichte. Letzteres ist gerade in einen Neubau umgezogen und um ein Planetarium erweitert worden. Die Ausstellungsobjekte sind sehr gut präsentiert und erklärt. Blickfang in der Eingangshalle sind zwei Mastodon-Skelette, die in Michigan gefunden wurden.- Das Hands-on-Museum ist eine Art Experimenta, auf Kinder ausgerichtet. Es wird von einer Stiftung betrieben und ist sehr gut besucht.
Auch an amerikanischen Universitäten gibt es Verbindungen: fraternities und sororities. Die Mitgliederzahl ist im Verhältnis zur Studentenzahl sicher höher als in Deutschland: 3% der Bevölkerung, d.h. 9 Millionen Menschen gehören solchen Verbindungen an, davon sind knapp 10% aktive Studenten.Farben werden höchstens bei internen Veranstaltungen getragen, man schlägt auchkeine Mensuren. Die Namen beziehen sich nicht auf historische Landsmannschaften, sondern bestehen meist aus 2-3 griechischen Buchstaben wie chi omega oder alpha delta phi, weshalb man auch von „Greek life“ spricht. Die Häuser, die natürlich gerade Neuankömmlingen Unterkünfte bieten, stehen fast immer auf dem Campus und sind auch Zentren für rauschende Parties, die wegen des Alkoholverbots unter 21 Jahren oft als illegal angesehen werden müssen. Deutlich mehr als in Deutschland heute gehen von diesen Vereinigungen beruflich wichtige Verbindungen aus: so waren seit 1910 85% der Richter am US supreme court Verbindungsmitglieder und von den letzten Präsidenten Gerald Ford, Ronald Reagan, beide Bushs und Bill Clinton!
*1 Gemessen wird hier natürlich in °Fahrenheit ( -23 - 105°F)
*2 Kindergarten ist hier die Bezeichnung für das erste Schuljahr, in das man mit
5 ½ – 6 Jahren eintritt. Darauf folgt der first grade. Unser Kindergarten heißt hier dagegen preschool (Kinder von 3-5), toddler (Kleinkinder) werden in die daycare gebracht, für Babys gibt es infant groups.